EVAS hilft bei der sicheren Diagnose von Autismus
Autismus-Spektrum-Störungen (Autismus) sind genetisch bedingte neuronale Entwicklungsstörungen, die bei knapp einem Prozent der Bevölkerung auftreten. Eine Verdachtsdiagnose wird aber wesentlich häufiger gestellt, denn auch für viele Fachleute ist die richtige Diagnose aufgrund der komplexen Symptome und unterschiedlichen Ausprägung der Erkrankung eine Herausforderung. Bei 50 bis 80 Prozent der vorgestellten Fälle in auf Autismus spezialisierten Zentren bestätigt sich ein solcher Verdacht letztlich nicht, doch müssen Betroffene durch die hohe Zahl an Zuweisungen dort sehr lange auf einen ersten Termin warten – oft bis zu einem Jahr. Je früher aber spezialisierte Diagnostik und Behandlung stattfinden, desto besser die Langzeitprognose für die Betroffenen und desto geringer die Kosten für das Gesundheitssystem. Hier setzt das Projekt EVAS (Early Valid Autism Screening) an: Entwickelt und getestet werden soll ein Online-Fortbildungsprogramm inklusive Autismus-Checkliste für Fachleute, das im Erfolgsfall in der Routineversorgung eingesetzt werden könnte. Das Projekt wird für vier Jahre mit rund 1,6 Millionen Euro durch den Innovationsauschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gefördert.
Knappe Kapazitäten zielgenauer nutzen
Es geht um schnelle Hilfe für Betroffene, aber auch um Unterstützung medizinischer und psychologischer Fachkräfte: „Angesichts knapper Ressourcen möchten wir die Qualität der Zuweisungen zu den auf Autismus spezialisierten Zentren verbessern“, sagt Projektleiterin Prof. Dr. Inge Kamp-Becker von der Philipps-Universität Marburg. Dazu soll die im Projekt entwickelte Internetseite www.autismus-lotse.de mit allgemein verständlichen Informationen rund um die Erkrankung beitragen. Über einen passwortgeschützten Bereich ist ein Online-Fortbildungsprogramm für medizinisches und psychologisches Fachpersonal abrufbar, welches die wesentlichen Merkmale unterschiedlicher Ausprägungen von Autismus über die gesamte Lebensspanne verständlich macht. Mithilfe der Fortbildung und einer Autismus-Checkliste soll das Fachpersonal bestimmte Verhaltensmerkmale besser einschätzen können und damit auch die Zuverlässigkeit von Verdachtsdiagnosen erhöht werden.
Begleitstudie läuft noch bis April 2024
Eine begleitende Studie ermittelt an vier Studienzentren in Marburg, Dresden, Göttingen und Berlin, die jeweils über eine Spezialambulanz für Autismus verfügen. Dort wird geprüft, ob das Online-Fortbildungsprogramm zur verbesserten Qualität der Zuweisungen beiträgt. „Wir verzeichnen ein reges Interesse sowie eine gute Akzeptanz der Website“, berichtet Prof. Dr. Inge Kamp-Becker. „Der Zuspruch für die Umsetzung der Informationen und die hohe didaktische Qualität des Trainings mit klar erklärenden Text- und Videoelementen ist groß.“ In 64 kurzen Video-Clips werden relevante Verhaltensmerkmale von Menschen mit Autismus erklärt, dargestellt und mit Personen ohne Autismus verglichen. Übungsfragen sollen das Gelernte sichern und festigen, bevor auffällige Verhaltensweisen in einer abschließenden Prüfung noch einmal anhand von neuen Videoclips bewertet werden.
Nach Teilnahme an der Online-Fortbildung folgt die Evaluierung des Trainings mittels einer Autismus-Checkliste, die ebenfalls auf der Internetseite zu finden ist. Hier wird das frisch geschulte Fachpersonal um eine Einschätzung gebeten, ob für die an der Studie teilnehmenden Patientinnen und Patienten eine spezialisierte diagnostische Untersuchung notwendig ist oder nicht. Diese werden an den Studienzentren untersucht und erhalten eine Diagnose der dortigen Autismus-Spezialistinnen und -Spezialisten. So kann die Anzahl richtiger und falscher Zuweisungen ermittelt und geprüft werden, ob die Online-Fortbildung die Qualität der Zuweisungen erhöht. Bis April 2024 soll die Datenerhebung abgeschlossen sein.
Sicherer werden in der Verdachtsdiagnose
Ersten Erkenntnissen zufolge hatten rund 80 Prozent der Teilnehmenden der Online-Fortbildung zuvor keine Erfahrung in der Diagnostik von Autismus und fühlten sich nach dem Training subjektiv sicherer in der Einschätzung von Verdachtsfällen. „Bei positiver Evaluation könnte das Training als Fortbildungsprogramm für interessierte Fachleute zugänglich gemacht werden und die Autismus-Checkliste zu einem online-basierten Screening-Verfahren weiterentwickelt werden“, erklärt Projektleiterin Prof. Dr. Inge Kamp-Becker. Sie erwartet von der Studie belastbare Erkenntnisse zu Akzeptanz, Machbarkeit und Effizienz des bei EVAS entwickelten Tools – was auch die Ausweitung auf andere Störungsbilder zu „einer interessanten Erweiterungsoption“ mache.
Stand: 22.11.2023